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 (Dieser bearbeitete Text erschien im „ADAC Reisemagazin“)

Lisa heißt die Kräuterhex von der Bettmeralp. Bloß, dass Kräuterhexen heutzutage aussehen, als könnten sie im Schweizer Parlament sitzen. Kurzhaarschnitt, Ringelshirt, Ohrstecker. Na gut, macht ja nichts. Viel wichtiger: Was tut eine Kräuterhex’ heutzutage denn so? „Naja, wahrscheinlich dasselbe wie im Jahr 1812. Ich sammle, trockne und verarbeite Kräuter, ich koche, mache Salben, erfinde neue Salate und Suppen.“ „Und überhaupt“, fährt Lisa fort: „Esst Knoblauch und Bibernell, dann sterbt ihr nicht so schnell.“ Merksprüche, das steht fest, gibt’s hier fast so viel wie dreiblättrige Kleeblätter.

„Meine Kräuter“, sagt Lisa und packt ihre ganze Zuneigung in die Worte „sind ein Rundumlebenspaket“. „Kräuter verfeinern jedes Gemüse, jeden Auflauf. Sie heilen und duften. Und oft werden sie unterschätzt.“ Lisa hat Phytotherapie, Kräuterheilkunde, studiert, organisiert Lehrgänge und betreibt ein Mini-Restaurant mit drei Tischen.

Dieser Landstrich lebt seit Jahrhunderten von Kräutern, atmet Arnika, Kamille und Eisenkraut. Die Firma Ricola baut ganz in der Nähe der Bettmeralp auf riesigen Werks-Feldern die Zutaten für ihre Bonbons an, mischt seit 83 Jahren die gleichen dreizehn Kräuter – Spitzwegerich, Eibisch, Pfefferminze, Thymian, Salbei, Frauenmantel, Holunder, Schlüsselblume, Schafgarbe, Bibernell, Ehrenpreis, Malve und Andorn. Fügt ordentlich Zucker hinzu und voila: das Kräuter-Bonbon ist fertig.

Wer Kräuter verstehen lernen will, der kann natürlich ein paar Süßigkeiten lutschen. Besser aber ist es, richtig früh aufzustehen und an einem Tag im Sommer mit Lisa und einem Weidenkorb um den Bettmersee zu laufen  – den Blick gen Boden gerichtet.

Ein Mann in Arbeitshose schlägt Pflöcke in die Erde, sieht uns und schiebt den Hut in den Nacken: „Griaßts Eich, griaß di Lisa!“ „Servus Willi!“ sagt Lisa und zu uns gewandt: „Das ist der Willi, unser Viehtreiber, den kennt jeder im Dorf.“ Es ist ein bisschen wie im Heimatfilm. Gleich müsste O.W. Fischer um die Ecke biegen oder wenigstens der Bergdoktor. Aber es bleibt beim Willi – der ist bärtig und ziemlich lustig. Lässt sich gerne zum Mittagessen einladen. Aber vorher sammeln wir Schafgarbe, Rotklee, Brennnessel, Augentrost und Rauschbeeren. Und unter einer Bank stöbert Lisa den kerzenförmigen Hustenschreck Breitwegerich auf. „Der wächst im Schatten am liebsten.“ Aber verstecken gilt nicht.

Lisas Haus liegt in der Ortsmitte und für die Jause wird ein Holztisch im Garten frei geräumt. Neben Salat, Thymianbutter, Speck und Brot kommt ein Stövchen zum Einsatz auf dem nebenbei eine Creme aus Schafgarbe, Sheabutter und Bienenwachs köchelt – gegen rissige Haut. Das Chalet ist randvoll mit Eingelegtem, Eingemachtem, überal stehen Pulver und Tinkturen. Hunderte Schraubgläser und Dosen. In Regale geschlichtet, auf dem Boden gestapelt. Durch die Fenster strahlt Mittagssonne. Blick ins Tal, Richtung Bettendorf. Darüber die Walliser Alpen. Der Alphubel, die Mischabelgruppe, gewaltige Viertausender mit dem höchsten Berg auf Schweizer Boden, dem Dom.

Die Bettmeralp ist Heidiland, ein Bergparadies. Keine Zäune oder Ziergärten. Die Wiesen rund um die Chalets werden von Schafen und Kühen kurz gehalten, die Straßen sind leer, ab und zu bimmelt eine Fahrradglocke. „Freestyle“, nennt Lisa das Dörflerleben. Gegen Exzentriker hat keiner was – im Gegenteil. Dorf-Friseurin Pia modelliert ihren Kunden gern vogelwilde Frisuren. Wie neulich, als sie Lisas Haare raspelkurz schnitt und nur oben ein paar Strähnen stehen ließ. Lisa zuckt die Schultern: „Mach mal, hab ich gesagt.“

Auch in Lisas Küche kommen Außenseiter zu Ehren, die woanders entnervt aus dem Boden gerissen werden. Neben dem Heimgärtner-Schreck Giersch („Der schmeckt gut! Angebraten wie Spinat!“) hat es Lisa vor allem der Alpenampfer angetan. „Die Bauern hassen ihn, weil er so riesig wird, die Kühe fressen ihn nicht und deshalb hassen ihn die Bauern noch mehr.“ Aber Lisa hat Rezepte aus dem 16. Jahrhundert entdeckt, die den Ampfer ähnlich wie Mangold blanchieren, in Butter dünsten und mit Zwiebeln abschmecken. „Und aus den Stängeln mache ich eine Art Rhabarberkompott.“ Die kindskopfgroßen Ampfer-Blätter (früher auch begehrt als, ähem, Toilettenpapier) besitzen dazu eine kühlende Wirkung. Die wird im Dorfladen genutzt: Eingerollte Butterstücke bleiben so länger frisch. Sogar die Samen werden angeröstet und über Salat gestreut  – nichts in der Kräuterküche wird je verschwendet.

Biomüll? Was ist das denn?

PS: Übrigens haben auch synthetisch anmutende Leckereien oft natürliche Wurzeln. So heißt „Marshmallow“ übersetzt „Sumpf-Malve“, und der Eibisch – am Bettmersee wie auch im Ricola-Bonbon zuhause – ist so ein Malvengewächs. Aus Eiweiß, Zucker und der klebrigen Eibischwurzel rührten französische Patissiers Mitte des 18. Jahrhunderts eine weiße Paste namens „Páte De Guimauve“ zusammen – es war der Vater unserer zuckersüßen Kalorienbömbchen „Mäusespeck“.