(Dieser bearbeitete Text erschien im „ADAC Reisemagazin“)
„Bist Du fit im Bergwandern? Höhentauglich, austrainiert?“ fragt der Chefredakteur.
„Na klar. Ich bin auf Zack.“
Was gelogen ist.
Aber ich will die Geschichte. Über das Wandern durch Österreich, genauer gesagt über den Salzburger Almenweg.
Im Frühtau zu Berge, fallera.
Das letzte Mal wandern – war das nicht vor vielen Monden mit meinen Eltern?
Aber es ist abgemacht: Fünf Tage werde ich über einen Abschnitt des 350 Kilometer langen Almenwegs laufen. Nichts tun als laufen, über das Laufen nachdenken, schlafen und dann weiterlaufen.
Immerhin ist jetzt Ende der Saison. Der goldene Oktober. Nicht zu heiß, nicht zu kalt, meist sonnig. Kaum eine Kuh grast noch in den Bergen, denn der Spätherbst beginnt hier nicht selten mit Schneetreiben.
Der Start. Fluchen, schwitzen und dann wieder langweilen.
Wir starten oberhalb von Großarl. Die Sonne brennt. Wind summt in den Ohren. Knackt, raschelt und zurrt. Großarl war einst der kinderreichste Ort Europas und wirkt niedlich wie eine Puppenstube. Viele Romantikhotels und Bauernstuben. Aber nur wenige Meter oberhalb des Dorfes gibt es statt Bettwäsche und Frittatensuppe nur Kalkfelsen und Geröll. Ich zähle meine Schritte und ich zähle die Steine. Ich langweile mich schon jetzt und mein Rucksack ist zu schwer. Ich fluche, schwitze, und dann langweile ich mich wieder. Die beiden durchtrainierten Männer neben mir, ein einheimischer Bergführer und ein Fotograf aus Hamburg, ignorieren mich. Schwitzen kein bisschen und reden über die Landschaft.
Am Abend die erste Hütte. Oberhalb vom Tappenkarsee. Ich liege auf einer Holzpritsche, einen versöhnlichen Kaiserschmarrn im Bauch, und frage mich, wie lange fünf Tage eigenttlich sein können?
Die Lampe über dem Bett flackert, weil das Wasserkraftwerk hinterm Haus manchmal zu schwach auf der Brust ist. Hat uns der Wirt erzählt. Ohne die Funzel ist die Nacht tiefschwarz, sauber und kühl. Es riecht feucht, nach Erde und Gras.
Der nächste Morgen räumt die dunkle Stimmung vom Tag davor auf. Putzt sich raus und strahlt, wie es nur Herbsttage können. Die letzten Gäste der Tappenkarseehütte sitzen im sonnenwarmen Frühstücksraum. Sie schnüren ihre Rucksäcke, die Männergruppe aus Prag, am Abend noch schnapsselig und melancholisch, ist schon vor einer halben Stunde losgezogen. Fast sind sie nicht mehr zu sehen, nur noch kleine, bunte Sprenkel zwischen Heidekraut.
Sunnyboy und Wirt Hannes, blaue Augen, Schnauzbart und Sonnenfalten, serviert Kaffee, heiße Milch und immer neue, sagenhafte Geschichten.
„An goscherten Hund“, nennen sie den Hüttenwirt hier, oder auch „Schmähführer“. Heißt beides soviel wie Plaudertasche, Angeber.
„Vor zwei Wochen hat mein Schwager den Fuchs erschossen. Drüben am Berg. Mei, des war grausig. Des Blut, des Gedärm…“
Außerdem hat Hannes vor kurzem einen depressiven Kriminalbeamten eine ganze Nacht mit Stories und Enzianschnaps kuriert. Hier auf der Hütte. „Ehrlich wahr. Manchmal bin i a Psychiater.“
Später am Tappenkarsee, unterhalb seiner Hütte, setzt Hannes mit einem Motorholzboot und seinen Kindern über und nimmt uns mit.
Die Wellen plätschern, die Sonne versteckt sich.
Ich halte eine Hand ins Wasser und bibbere. Wolken verschwinden hinter Gipfeln, und kommen wieder, ballen sich, lösen sich auf, vom Bausch zum Bogen. Der Wind, mein ständiger Begleiter, summt jetzt lauter.
Am anderen Ufer ist mein Schritt plötzlich fester, die Stimmung besser und der Rucksack leichter. Was damit zusammenhängen könnte, dass Hannes eine Tüte voll mit Kram zum Aufbewahren von mir bekommen hat.
Denn: Was braucht man schon wirklich?
Ich jedenfalls werde während der ganzen Zeit nichts vermissen. Bis auf Bücher, Buchstaben, aber die muss man sich eben selbst schreiben. Im Kopf.
Wie leicht das geht, merke ich bald.
Wir sind jetzt allein, wir sind weg. Gehen schnaufend und schweigend bergauf. Keiner kann uns anrufen, simsen, mailen, die Zeit ist fort, da unten im See verloren gegangen. Für uns besteht sie nur noch aus Hell und Dunkel. Wenn es hell ist, gehen wir, wenn es dunkel ist, schlafen wir.
Das ist einfach. Einfach schön.
Vom Bootsschuppen schreit ein winziges Männchen noch einmal herüber: „Macht’s guad!“ Der Schmähführer dreht sich um und wandert nach Hause. Lustig war’s mit ihm.
Die Landschaft hier oben wird jetzt karg und wickelt einen trotzdem um den Finger. Es müssen an die 1900 Meter sein, ein Gipfelkreuz, dann wieder ein Stück bergab, bis wir ein Meer aus abgeblühten Almrosen durchqueren und das reinste Spektakel beginnt. Die Szenerien wechseln, als wären Kulissenschieber am Werk. Gerade noch sahen wir Winnetou und Apanatschi durch die Siebziger Jahre reiten, jetzt säumen die Highlands, dann ein paar Schweizer Kletterfelsen und schließlich Tannen, ausladende Kiefern und Lichtungen unseren Weg. Es ist ein Märchenwald, in dem der Tanzbodenkönig und der fette Ezechiel ihre Herzen aus Stein begraben. Es passt, dass ausgerechnet hier eine Märchenerzählerin lebt. Sie lässt „Das kalte Herz“ und „Rübezahl“ auferstehen. Andrea Seer begleitet Wanderer je nach Wunsch mit den Gebrüdern Grimm, mit Hauff, Natursagen oder ihrem Flötenspiel.
Wenn dann Melodien durch die Luft wirbeln, zart wie Gaze, hört man das Flüstern, überall: „Schatzhauser im grünen Tannenwald, bist schon viel hundert Jahre alt. Dein ist all Land, wo Tannen stehn – lässt dich nur Sonntagskindern sehn.“
Durch Birkenhaine und dichtes Moos schiebt sich die Filzmoosalm ins Bild, ganz schwarz und schief, blaukarierte Vorhänge in den Fenstern, davor Kinder, die Preiselbeeren in Plastikeimer zupfen. „Beeren brock’n“ sagen sie dazu.
Drinnen riecht es nach Rindenmulch, offenem Feuer und Speck. Draußen warten derbe Holztische, die Tracht aus Filz und rotem Tuch ist Pflicht für alle, die hier arbeiten. Dirndl oder Lederhosen, das junge Liebespaar aus Sonntagshüter Matthias und Sennerin Steffi trägt sie genauso wie Wirtin Christel.
Matthias, ein fescher Blonder, schnitzt an einem Haselnussstock, den hier jeder einheimische Wandersmann bei sich trägt. Nordic Walking? Nie gehört.
Christel tischt Graukas auf, den traditionellen Schimmelkäse, Brot und saftigen Kuchen aus Blaubeeren und Mohn. Es ist die Zeit der letzten Beeren, sie werden zu Süßem verbacken und eingekocht. Nur die Vogelbeeren, leuchtend rot und überhaupt nicht so giftig wie ihr Ruf, werden zu edlem Schnaps vergoren. „Der beste Obstbrand überhaupt.“ Sagt jeder, der ihn probiert hat.
Mehr als 120 Hütten liegen entlang des Salzburger Almenwegs, und zu den schönsten gehören die Maurachalm, die Weißalm und eben die rußige Filzmoosalm, wo Christel nun schon im 24. Sommer ihren Kas anrührt und Süßrahm buttert. Neun Kühe hat sie vor vier Tagen zusammen mit der Sennerin geschmückt und ins Tal gebracht. Jetzt räumen die beiden das Geschirr ab, die Nachmittagssonne taucht ihre Haare, ihre Blusen und derben Lederschuhe in ein flirrendes Licht.
Jetzt ein wenig dösen. Wegschlummern.
Es dämmert bereits, als wir am frühen Abend die Weißalm erreichen. Zu lange gedöst, selber schuld. Und jeder besonnene Wandersmann (ja, ich zähle mich seit heute Mittag dazu, den Spott muss ich ertragen) weiß: Wenn’s dunkelt, kehrt man ein. Wir aber müssen noch weiter. Was tun? Zum Übernachten sind wir auf der Unterwandalm angemeldet, eine Stunde von hier entfernt. Die Unterwand ist 300 Jahre alt, hat aber mit Eva und Rosi die jüngsten und hübschesten Sennerinnen. Gerade 21 Jahre alt ist der Almbauer Markus und ein sanfter Riese. Schon bald wird er die Eva hier oben heiraten, munkeln die Leute.
Überhaupt heiraten die Paare gerne auf der romantischen Unterwand.
Wir aber sitzen noch immer schräg gegenüber unserer Herberge.
Man kann sie von hier aus schon sehen, die Lichter gehen an. Der Abend wird kühl, und nur der Sonnenuntergang lässt den Himmel noch einmal leuchten.
Einen letzten Enzian, dann hat Weißalm-Bauer Michael ein Einsehen. Er mag siebzig sein, hat ein Gesicht wie aus Borke geschlagen und einen Golf „Bon Jovi“ von 1994 mit eingeschlagener Windschutzscheibe im Schuppen stehen. Mit diesem wackeren Gaul von einem Auto schaukelt er uns auf seinem Privatweg 1600 Meter über dem Tal rüber zu seinen Nachbarn.
„Jo mei. Ka Broblem.“
Einen wie Michael trifft man nur hier oben. Eine Seele von einem Menschen, verschmitzt und „immer liab“, wie seine Frau Barbara weiß. Und der Michi sagt, dass er im Sommer nur hier leben mag. Nur hier kann er in einem unangemeldeten Wagen ohne Frontscheibe den Abhang entlang brettern während seine Kühe hinter ihm her kauen. Nur hier setzt Barbara morgens um sieben den Hefeteig an, schneidet Speck, deckt den Tisch und füttert die Schweine, eines mit hellen Augen und rotblonden Wimpern. Wir rufen: „Boris!“.
Nur hier kann Michael mit seinen beiden Söhnen den ganzen Tag über Vogelbeeren brock’n, am Abend ein paar Schnäpse trinken und über die Berge schauen. Woanders geht das nicht und woanders wären ihm die Lachfalten womöglich längst abhanden gekommen.
Mächtig weit weg ist man hier oben vom Leben da unten und doch nur ein paar Kirschkernspucker entfernt.
Wir durchwandern die Tage und schlafen wie ein Stein in der Nacht. Es sind die kleinen Dinge, die zu Sensationen werden auf dem Weg. Ein duftendes Stück Seife auf der Unterwandalm macht mich überglücklich. Im hohen Gras liegen, den Hut ins Gesicht ziehen und plötzlich zum ersten mal überhaupt an gar nichts denken. Sowas schafft ein Spa in hundert Jahren nicht. In einem alten Schuppen entdecken wir einen Holzschlitten aus dem letzten Jahrhundert, auf der 400 Jahre alten Karseggalm kratzen wir Ruß von den Wänden und staunen über die dicken Speckschwarten, die saftig im Rauch hängen. Arnika, Herbstenzian und das seltene Wollgras wird von uns bestaunt und der Senner stopft derweil seine Pfeife mit Liebe und viel Ruhe. Und dann plötzlich: Schauen wir einem echten Supermodel in die Augen. Und verlieben uns auf der Stelle.
Notburga heißt die Sennerin von der Maurachalm und sie ist wahrscheinlich öfter fotografiert worden als Heidi Klum. Neulich sogar für das Titelblatt eines Wanderkalenders. Sie ist mit Helikoptern herumgeflogen worden, vertritt den Salzburger Almensommer in ganz Europa und hat das Wort „Marketing“ in ihren rustikalen Alltag auf der Alm problemlos integriert.
Sie sieht toll aus. Ihren langen Zopf trägt sie um den Kopf geschlungen, wie es die Frauen hier eben tun. Ihr Dirndl ist aus dunkelgrünem Samt, der Schmuck aus echten Hirschzähnen. Ihre Augen schimmern grasgrün und das Haar silbern. In diesem Jahr wird Notburga ihren 81. Geburtstag feiern.
Man möchte die Anti-Age-Creme von daheim in die Tonne treten. Schön macht etwas anderes. Bloß was? Statt einer Antwort zeigt Notburga ihre mit Sinnsprüchen bestickten Leintücher, die in der Stube hängen. Auf einem steht: „Glücklich, wer ein Herz gefunden, das nur in Liebe denkt und sinnt.“ Kitsch hin oder her, Hoffmann von Fallersleben hatte da irgendetwas richtig verstanden. Seit fast 60 Jahren ist Burga jetzt mit Sebastian zusammen, der heute einen Strohhut trägt. Sie lächelt. Und muss jetzt zum Auftritt.
Auf der Holzveranda, gleich über dem Sommerblumengarten, steht ihr Sohn Ludwig, auch schon ergraut, und spielt Akkordeon. Seine Mutter legt die Finger um das Geländer, ganz fest, und singt aus voller Kehle.
Es ist ein Montag, zwei Uhr am Nachmittag. Und hier scheinen wieder mal alle aus der Zeit gefallen. Uhren jedenfalls zählen hier nicht.
Jeder Hocker, jede Bank ist besetzt, Wanderer kommen von überall her um den beiden zuzuhören und ein Glas Holunderblütenwasser zu trinken. Aus selbstgemachtem Sirup und Quellwasser gemischt, schmeckt es nach fetten Kräuterwiesen und einem langen Sommer. Muss er denn überhaupt je enden?
Es soll unser letzter Tag auf dem Almenweg werden, aber das wollen wir jetzt noch nicht wahrhaben.
Erst als wir Stunden später auf dem Weg ins Tal durch Bachläufe waten, durch Heidekraut und knackende Halme, hören wir plötzlich nichts als das Summen der Luft, sehen nichts als Gipfel und Täler. Kein Mensch weit und breit, nicht mal ein Schaf, keine Kuh. Die Weiden sind abgegrast, ein paar Holzstecken ragen aus dem aufgeschaufelten Boden. Die Reste vom Sommer.
Zur Sonnwendfeier erstrahlen hier nämlich der Schuhflicker, der Kreuzkogel und wie die Gipfel alle heißen, in einem Meer aus Leuchtfeuern. Die Fackeln werden handgegossen aus Hobelspänen und Wachs und in die Erde gerammt. Ein Feurspektakel, adieu schöner Sommer. Jetzt aber: nichts mehr. Stille.
„Hörst du das?“ frage ich, und der Fotograf nickt.
Wie lange können fünf Tage eigentlich sein?
Ich sage es Ihnen: Immer zu kurz.
Als unsere Wanderroute endgültig beendet ist, die Seilbahn uns in Wagrain absetzt und wir ein Taxi zurück nach Großarl nehmen, sehen wir einer unruhigen Nacht im Hotelbett entgegen.
Schon um kurz nach sieben sitzt der Fotograf am Frühstückstisch, schlürft Tee und starrt auf seine Uhr.
„Wir können es schaffen“, sage ich und er sieht auf. Er weiß genau, was ich meine.
Innerhalb von Minuten stehen wir vor unserem Hotel „Alte Post“ auf der Straße.
„Schnell!“ rufe ich dem Taxifahrer zu und werfe meine Tasche auf den Rücksitz. „Ganz nach oben!“ Es klingt wie ein Flehen
Nur noch einmal rauf auf die Alm zu Michael und Barbara. Auf einen Sonnenaufgang, einen Kaffee, einen Schnaps. Tschüß sagen zu Boris und Bon Jovi, zu den Tannen, den Wiesen, dem ganzen Kitsch, herrgott. Was für ein schwerer Abschied.
Nach einem „Kummt’s bald wieda“ können wir dann auch endlich zum Flughafen fahren, zweihundert Kilometer entfernt. Der Entzug der Bergwelt sollte langsam geschehen. Das haben wir gelernt in diesen Tagen. Es muss ein warmer Entzug sein. Ein sonniger Platz auf der Holzveranda lindert den Trübsinn, und der letzte Vogelbeerschnaps wärmt das Herz wie Bio-Methadon. Ist aber harmlos. Garantiert.